Vorwort von Robert Schleip zum Buch von Frank Römer: "Praktisches Lehrbuch zum FDM"

Lange Zeit wurde dem muskulären Bindegewebe (Faszien) eine Aschenputtel-Rolle innerhalb der muskuloskeletalen Medizin zugewiesen. Es galt als plumpes passives Verpackungs- und Füllmaterial. Das Hauptinteresse der orthopädischen und sportmedizinischen Forschung lag hingegen bei den Muskeln, Bandscheiben und Gelenken. Ausgehend mit dem 1. Fascia Research Congress (Harvard Medical School, Boston 2007) sind die Faszien seitdem rapide zunehmend in den Brennpunkt des internationalen wissenschaftlichen Interesses gerückt. Dies zeigt sich deutlich in der fast exponentiellen Zunahme an wissenschaftlichen Studien, welche sich heute den Faszien widmen.
So konnte beispielsweise klar gezeigt werden, dass die Muskeln nur einen Teil ihrer Zugkraft über deren Sehnen auf das Skelett ausüben. Vielmehr wird über laterale myofaziale Vernetzungen oft ein erheblicher Teil der muskulären Spannung an benachbarte parallele Strukturen weiter gegeben - selbst wenn es sich hierbei um funktionell antagonistische Muskeln handelt. Wie hoch diese laterale myofasziale Kraftübertragungs-Komponente ist, hängt von der individuellen faszialen Architektur ab und kann demnach gravierende Auswirkungen auf die muskuloskeletale Dynamik haben. Eine entsprechende Analyse dieser Quervernetzung mittels Ultraschall-Elastografie stellt heute bereits einen wichtigen Teil moderner Diagnostik bei spastischen Paresen sowie bei der fokalen Dystonie dar.
Zudem können sich Faszien aktiv zusammen ziehen - unabhängig von den dazu gehörigen Skeletmuskeln. Wie die Fascia Research Group der Universität Ulm zeigen konnte, sind auch normale Faszien mit glattmuskelähnlichen kontraktilen Zellen besiedelt, den sogenannten Myofibroblasten. Diese bereits von der Wundheilung bekannten Bindegewebszellen spielen auch bei der Dupuytren Kontraktur (einer Versteifung der Handflächen-Faszie) oder der Frozen Shoulder eine ausschlaggebende Rolle. Mit ihrer Hilfe scheint der Körper in der Lage zu sein, die lokale Gewebesteifigkeit - je nach mechanischer Belastungsdynamik, biochemischem Milieu sowie der genetischer Konstitution - im Laufe von Tagen bis Monaten dynamisch zu verändern. Diese Einsicht eröffnet derzeit spannende Horizonte für die Behandlung einer Vielzahl myofaszialer Störungen, von der systemischen Hypermobilität bis zur chronischen Nacken- oder Rückenmuskulatur-Versteifung.
Einer der spannendsten Aspekte der neueren Faszienforschung ist jedoch die zunehmende Einsicht, dass die Faszien eines unserer reichhaltigsten Sinnesorgane darstellen. Das körperweite Fasziennetz, welches aus hunderten von Membranen, Beuteln und strangartigen Verdickungen besteht, kann als unser wichtigsten Sinnesorgan gesehen werden für die Wahrnehmung des eigenen Körpers in Haltung und Bewegung (Propriozeption). Während man früher davon ausging, dass für diesen sogenannten sechsten Sinn hauptsächlich die Gelenkrezeptoren und Muskelspindeln ausschlaggebend sind, legen neuere Erkenntnisse nahe, dass die zahlreichen Dehnungsrezeptoren in den oberflächig gelegenen Faszienschichten hierbei eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen. Obwohl diese Schlussfolgerung gegenwärtig noch nicht bewiesen ist, liegt die Vermutung nahe, dass Adhäsionen und andere Verschieblichkeits-Störungen an diesen oberflächigen Faszienschichten profunde Auswirkungen auf die Propriozeptionund damit auch auf die gesamte Bewegungskoordination haben könnten.
Faszien können aber auch eine häufige Quelle muskuloskeletaler Schmerzen darstellen. Wie neuere histologische Studien belegen, sind sie reichhaltig mit nozizeptiven Nervenendigungen besiedelt. Auch beim sogenannten Muskelkater scheinen diese freien Nervenendigungen in den faszialen Muskelhüllen - so das Ergebnis neuerer sportmedizinischer Studien aus Dänemark - eine zentrale Rolle zu spielen.
Untersuchungen der Universität Heidelberg an der Lumbalfaszie von Ratten legen ferner nahe, dass Faszien eine klare segmentale Innervation besitzen. Darauf aufbauend kann das Rückenmark dann offensichtlich mit einer segmentalen Sensitivierung faszialer Schmerzrezeptoren reagieren. Interessanterweise scheint eine solche Reizschwellen-Verringerung für fasziale Schmerzempfindungen sogar auch dann aufzutreten, wenn Störungen anderer (nicht faszialer) Strukturen vorliegen, die vom selben Rückenmarkssegment sensorisch innerviert sind Stephen Typaldos kann neben Andrew Taylor Still, dem legendären Begründer der Osteopathie, sowie Ida Rolf (Begründerin der Rolfing Methode myofaszialer Manipulation) als einer der großen westlichen Pioniere in der therapeutischen Faszienarbeit gesehen werden. Während Still und Rolf eher die Rolle der Faszien als ubiquitäres Hintergrund-Gewebe für gesunde Organregulation sowie für die Körperhaltung betonten, erforschte Typaldos vor allem die Rolle der Faszien als Dreh- und Angelpunkt für die Entstehung myofaszialer Schmerzen und deren klinischen Behandlung. Aufbauend auf seinen eigenen jahrzehntelangen Explorationen als manualtherapeutisch arbeitender Artzt gelang es Typaldos, ein bestechend einfaches und klares Modell zu beschreiben, wonach die häufigsten faszialen Störungen in sechs sogenannte ‘faszialen Distorsionen’ klassifiziert werden können. Sein Augenmerk lag hierbei weniger bei den tiefen intramuskulären oder viszeralen Fasziengeweben, als vielmehr bei den grossflächigen Muskelhüllen und Ganzkörperfaszien, die auch einer klaren Diagnostik und manualtherapeutischen Behandlung gut zugänglich sind.
Dass sich die Typaldos Methode in den letzten Jahren nicht nur im deutschen Sprachraum einer beeindruckend wachsenden Popularität erfreut, hängt offensichtlich nicht nur mit der allgemeinen ‘Faszien Renaissance’ in den Lebenswissenschaften zusammen, sondern kann meines Erachtens auch als Zeichen der therapeutischen Wirksamkeit gedeutet werden, mit der diese Methode durch oft verblüffend schnelle und klare Verbesserungen bei einer Vielzahl muskulärer Schmerzstörungen beeindruckt. Neben der therapeutischen und didaktischen Klarheit des Konzeptes der sechs faszialen Distorsionen beinhaltet das von Typaldos entwickelte Behandlungsmodell auch eine bestechend einfache Diagnostik, bei der die spontane sprachliche und gestische Schmerzbeschreibung des Patienten eine ausschlaggebende Rolle spielt. Hier können andere Manualtherapeuten - seien es Osteopathen, Rolfer, Chiropraktoren und andere Schmerztherapeuten - geradezu vor Neid erblassen, zumal wenn deren Diagnostik auf komplexen Tests und Explorationen aufbaut mit oft mehrdeutigen Ergebnissen. Darüber hinaus bietet die damit einhergehende Ausrichtung der Typaldos-Behandlung an der ‘Autorität des Patienten’ eine unschätzbare therapeutische Klarheit, die man zudem oft schon in wenigen Seminartagen in seinen Grundzügen erlernen kann.
Es sind spannende Zeiten in denen wir heute leben, und in denen mit den hier vorgelegten praktischen Behandlungsinstruktionen von Frank Römer, jetzt einem breiteren therapeutischen Behandlerkreis zugänglich werden. Die rapiden Fortschritte in der bildgebenden Gewebediagnostik dürften es schon in wenigen Jahren ermöglichen, die diagnostischen und therapeutischen Prämissen dieser modernen Faszientherapie auf nicht-invasive Weise zu evaluieren. Gut möglich, dass dann sowohl Sie lieber interessierter Leser als auch ich als leidenschaftlicher Faszienforscher eine eindeutige wissenschaftliche Bestätigung der von Typaldos gefundenen sechs faszialen Distorsionsmuster in hochkarätigen wissenschaftlichen Journalen erleben werden. Möglicherweise könnte dieser Prozess auch zu Weiterentwicklungen und Verfeinerungen in der Methode führen. Mit Sicherheit ist jedoch zu erwarten, dass das von Typaldos begründete Fasziale Distorsions-Modell in den nächsten Jahren neben anderen anatomisch orientierten faszialen Therapien einen wichtigen Platz einnehmen wird in der Behandlung myofaszialer Schmerzsyndrome sowie auch in der damit einher gehenden klinischen Forschung.

Dr. biol.hum. Robert Schleip
Direktor, Fascia Research Group
Division of Neurophysiology, Universität Ulm